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Beitrag vom 17.01.2022
The Other Side Of The River. No Women No Revolution. Dokumentarfilm von Antonia Kilian. Kinotour mit der Regisseurin ab 18. Januar 2022. Kinostart ab 27. Januar 2022
Helga Egetenmeier
Regisseurin Antonia Kilian lernte ihre Protagonistin für den Dokumentarfilm bei der "Women´s Protection Units" in Manbji kennen, als diese sich zur Polizistin ausbilden liess. Die Stadt gehört zum kurdischen Gebiet Rojava im Norden Syriens, in das die neunzehnjährige Hala floh, um...
... ihrer Zwangsheirat zu entgehen. Kilian begleitete Hala mit der Kamera sowohl bei ihrer Arbeit, in der sie als Polizistin bei Gewalt gegen Frauen Täter festnimmt und junge Frauen dabei unterstützt, auch Polizistin zu werden, als auch bei ihrer persönlichen Auseinandersetzung mit den patriarchalen Strukturen in ihrer Familie.
Als Feministin, so die Dokumentarfilmerin, wollte sie mehr über die "Revolution der Frauen" erfahren, und ging deshalb im Sommer 2016 nach Syrien. Sie blieb über ein Jahr für ihre Dreharbeiten in Manbji und fing dabei auch Bilder der größtenteils zerstörten Stadt, wie auch der kargen Umgebung ein. Diese Aufnahmen bilden den Gegensatz zu dem in Militäruniform stattfindenden und durch Befehle geprägten Leben von Hala, deren Familie auf der anderen Seite des nahegelegenen Euphrat wohnt.
Zwischen strukturellem Patriarchat und militantem Feminismus
Auf die Frage von Kilian, weshalb sie zur Polizei gegangen sei, antwortet ihr Hala: "Ich möchte alle Frauen befreien." Die älteste von zehn Schwestern und zwei Brüdern, hängt sehr an ihren Geschwistern. Dennoch verlässt sie ihre Familie, als ihr Vater sie an den Sohn eines Geschäftskunden verkaufen will. Sie habe keine Träne vergossen, als ihr Vater sie geschlagen habe, erzählt sie stolz in die Kamera. Männer seien der Grund, weshalb Frauen leiden müssten, denn "sie sind keine Brüder oder Onkel. Sie verkaufen dich, ohne mit der Wimper zu zucken. Und wenn du dich bei deinem Vater beschwerst, bricht er dir das Rückgrat. Welchem Mann auf der Welt kannst du vertrauen?"
Zwei Schwestern, zwei Lebenswege
Als Hala ihre Polizei-Ausbildung in der Martyr Monzur Academy abschließt, kommt ihre Schwester Sosan zu Besuch und wird damit ein Teil der Filmaufnahmen. Im Zusammenspiel der Schwestern zeigt Kilian die Ambivalenz, die zwischen der Kritik am Patriarchat und verinnerlichten Loyalitäten gegenüber der Familie entstehen. Entgegen Halas Ratschlag entscheidet sich Sosan dazu, die arrangierte Heirat ihres Vaters zu akzeptieren. Filmemacherin Antonia Kilian fängt diesen Tag der Hochzeit ein, die Sosan als eine stark geschminkte Braut im weißen Rüschenkleid zeigen. Es sei absichtlich keine Hochzeitsfeier organisiert worden, meint Hala. So erscheinen die Bilder dieser Hochzeit wie eine Inszenierung zur Demütigung der Schwestern, da sie dem Vater, so formuliert er es gegenüber Kilian in die Kamera, "Schande" gebracht hätten.
Dass hier das Patriarchat auch als Machtstruktur gegen ihre Eltern funktioniert, wird durch eine Erklärung von Hala deutlich, die an diesem Tag mit ihren Geschwistern, der Mutter und der Braut im elterlichen Hof auf dem Boden sitzt: Nachdem sie zur Polizei gegangen sei, wurde ihre Familie von niemandem mehr beachtet, oder besucht. "Aber das ist ihr Problem", setzt Hala nach - und dennoch fängt die Kamera ein, wie die kraftvolle Frau, die zur Selbstverteidigung mit einem Maschinengewehr und einer Handgranate bewaffnet ist, hier mit ihren Gefühlen kämpft.
AVIVA-Tipp: Antonia Kilian ist ein beeindruckender Film über die sichtbaren, wie die unsichtbaren Wirkungsweisen des Patriarchats gelungen. Mit ihrer Protagonistin hat sie eine ausdrucksstarke Frau gefunden, die sich gegen die männliche Dominanz wehrt und dabei auch gegen ihre eigene Familie kämpfen muss. Der zwischen der militanten kurdischen Frauenbewegung und dem Islamischen Staat angesiedelte Dokumentarfilm geht dabei weit über diese lokale Bedeutung hinaus, und zeigt, wie tiefgreifend und zerstörerisch die patriarchale Ideologie sich in das tägliche Leben eingräbt.
Zur Regisseurin und Kamerafrau: Antonia Kilian studierte Visuelle Kommunikation, sowie Kunst und Medien an der Universität der Künste Berlin, wie Kinematographie an der Universität Potsdam Babelsberg und an der ISA in Havanna, Kuba. Sie war Kamerafrau (DoP) bei zahlreichen Filmen, die weltweit auf Festivals liefen. Als Regisseurin, Kamerafrau und Produzentin hat sie Videoinstallationen geschaffen und bei mehreren dokumentarischen Kurzfilmen Regie geführt. "The Other Side Of The River" ist ihr Regiedebüt für einen Langfilm. Zur Zeit lebt und arbeitet sie zwischen Kassel und Berlin und leitet ihre eigene Produktionsfirma Pink Shadow Films.
Mehr Infos unter: www.antoniakilian.com
Auszeichnungen:
2021 – Bester Dokumentarfilm, Hessischer Film- und Kinopreis
2021 – VFF Dokumentarfilm Produktionspreis, DOK.fest München
2021 – Bester Dokumentarfilm, Fünf Seen Filmfestival
2021 – Beste Kamera Dokumentarfilm, Achtung Berlin
2021 – Bester Dokumentarfilm, Biberacher Filmfestspiele
2021 – Best International Documentary Award, Duhok International Filmfestival
2021 – Best International Documentary Award, Panorama Coisa de Cinema Brasil
2021 – Special Mention Goldener Herkules, Kasseler Dokfest
The Other Side Of The River
No Women No Revolution
Deutschland, Finnland 2021
Regie: Antonia Kilian
Buch: Antonia Kilian, Guevara Namer, Arash Asadi
Kamera: Antonia Kilian
Produzent*innen: Frank Müller, Antonia Kilian, Guevara Namer, Merja Ritola
Originalsprache: Arabisch, Kurdisch, Deutsch mit englischen Untertiteln
Verleih: jip
Lauflänge: 92 Minuten
Kinostart: 27.01.2022
Mehr zum Film und der Trailer unter: www.jip-film.de
Kinotour mit Publikumsgespräch mit der Regisseurin:
18.01.2022 – Acud Kino, Berlin
19.01.2022 – Lichtblick, Berlin
20.01.2022 – Abaton, Hamburg Premiere
21.01.2022 – City 46, Bremen
22.01.2022 – City 46, Oldenburg
23.01.2022 – Cinema, Münster
23.01.2022 – Filmkunstkinos Hannover, in Kooperation mit Young Amnesty Hannover
24.01.2022 – Scala, Ludwigsburg in Kooperation Haus des Dokumentarfilms
28.01.2022 – Mal Seh´n Kino, Frankfurt, in Kooperation mit der Rosa-Luxemburg-Stiftung
Weitere Starttermine und Kinos unter: www.jip-film.de
Weitere Informationen finden Sie unter:
www.womendefendrojava.net
Informationen über die Frauenbewegung "Kongra Star" und ihre Kampagne "Women Defend Rojava", mit Hintergründen zur Frauenbewegung im Nordosten Syriens und Veröffentlichungen zu aktuellen Ereignissen.
www.civaka-azad.org
Das kurdische Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit Civaka Azad hat es sich zur Aufgabe gemacht, über das Leben der Kurd*innen zu berichten, deren Wohngebiet sich über die Grenzen der Länder Türkei, Syrien, Iran und Irak hinweg erstreckt.
Weiterlesen auf AVIVA-Berlin:
Zuhurs Töchter – ein Film von Laurentia Genske und Robin Humboldt
Für ihren zweiten gemeinsamen Dokumentarfilmh" haben die Filmemacher*innen die Transgender-Teenager Lohan und Samar drei Jahre lang begleitet: In ihrer neuen Heimat Deutschland können die Schwestern aus Syrien endlich ihre weibliche Identität ausleben. Mit "Zuhurs Töchter" gelingt dem Regie-Duo ein bewegendes Porträt zweier Frauen auf der Suche nach ihrem Platz in der Gesellschaft. (2021)
Woman. Was wir erleben, träumen, hoffen. Dokumentarfilm und Foto-Bildband von Anastasia Mikova und Yann Arthus-Bertrand.
Wie wichtig der globale Kampf um die Rechte der Frauen ist, darüber sprechen im Film- und Foto-Projekt "Woman" Interviewpartnerinnen aus über 50 Ländern. Nachdrücklich erzählen sie von den Gewalttaten, die ihnen angetan wurden, nur weil sie Frauen sind. (2021)
For Sama - Dokumentarfilm
Der mehrfach ausgezeichnete Dokumentarfilm der syrischen Filmemacherin und Journalistin Waad Al-Kateab ("Inside Aleppo") zeigt das Leben und Sterben der Menschen in Aleppo. Aus ihrer Perspektive als junge Frau und Mutter dokumentiert sie deren Leid, aber auch den Zusammenhalt und die Hoffnungen, den verzweifelten Kampf ums Überleben. "For Sama" ist zutiefst berührendes Zeitdokument wie filmischer Liebesbrief einer Mutter an ihre kleine Tochter, Sama. (2020)
Die Stimme meines Vaters – Babamin Sesi Ein Film von Orhan Eskiköy und Zeynel Dogan.
Landschaftsbilder von berückender Schönheit: eine alte Frau steigt allein auf einen Bergkamm, um dort für die Rückkehr ihres Sohnes Hasan zu beten, der als kurdischer Kämpfer in den Untergrund gegangen ist. In "Die Stimme meines Vaters" durchbricht Basê, eine kurdische Alevitin in der Türkei, langsam ihr jahrelanges Schweigen und die Verdrängung. (2012)
Min Dit – Die Kinder von Diyarbakir. Ein Film von Miraz Bezar
Das Langfilmdebüt des Regisseurs beleuchtet das Leben zweier Straßenkinder vor dem Hintergrund des türkisch-kurdischen Bürgerkrieges. Es setzt sich mit einem gesellschaftliche hochbrisanten Thema auseinander und gewann auf internationalen Filmfestspielen mehrere Preise. (2010)